Okt 092014
 

Vater vergisst  (Gekürzte Fassung aus Readers Digest von W. Livingston Larned )

„Hör zu, mein Sohn, ich spreche zu Dir, während Du schläfst, die kleine Faust unter der Wange geballt,
die blonden Löckchen verklebt auf der feuchten Stirn. Ich habe mich ganz allein in Dein Zimmer geschlichen.

Vor ein paar Minuten, während ich in der Bibliothek über meiner Zeitung saß, erfasste mich eine Woge von Gewissensbissen. Reumütig stehe ich nun an Deinem Bett.

Ich musste daran denken, dass ich böse mit Dir war, mein Sohn.

Ich habe Dich ausgescholten, während Du Dich anzogst, weil Du mit dem Lappen nur eben über Dein Gesicht gefahren bist. Ich stellte Dich zur Rede, weil Deine Schuhe schmutzig waren. Ich machte meinem Ärger hörbar Luft, weil Du Deine Sachen auf den Boden fallen ließest.

Auch beim Frühstück fand ich manches auszusetzen. Du verschüttetest den Inhalt Deiner Tasse. Du schlangst das Essen hinunter. Du stütztest die Ellenbogen auf den Tisch. Du strichst die Butter zu dick aufs Brot.

Als Du zu Deinen Spielsachen gingst und ich mich auf den Weg zur Arbeit machte, da hast Du Dich umgedreht, gewinkt und mir zugerufen: „Auf Wiedersehen, Papa!“ Doch ich runzelte die Stirn und gab zur Antwort: „Halte Dich gerade und mach keinen solchen Buckel!“

Am späten Nachmittag ging es von neuem los. Als ich die Straße heraufkam, sah ich, wie Du auf dem Boden knietest und mit Murmeln spieltest. Die Strümpfe waren an den Knien durchgewetzt. Ich beschämte Dich vor Deinen Freunden und befahl Dir, vor mir her ins Haus zu gehen. Strümpfe sind teuer – wenn du sie selber kaufen müsstest, würdest Du mehr Sorge dazu tragen!

Das, mein Sohn, warf Dir Dein Vater vor!

Weißt Du noch, später, als ich meine Zeitung las, da kamst Du in die Bibliothek, schüchtern, in Deinen Augen eine Spur von Traurigkeit. Als ich über den Rand der Zeitung blickte, ungeduldig, weil ich nicht gestört sein wollte, da bliebst Du in der Tür stehen. „Was willst Du?“ schnauzte ich Dich an.

Du sagtest nichts, stürmtest nur mit einem Satz durch das Zimmer, warfst mir die Arme um den Hals und küsstest mich, und Deine kleinen Arme drückten mich mit einer Zuneigung, die Gott selber in Dein Herz gepflanzt hat und die trotz aller Vernachlässigung immer weiterblühte. Plötzlich warst Du weg, ich hörte Dich die Treppe hinauftrappeln.

Kurz nachdem Du weggegangen warst, mein Sohn, glitt mir die Zeitung aus den Händen, und eine grauenhafte Angst erfasste mich. Was war aus mir geworden? Vorwürfe und Tadel ohne Ende – damit vergalt ich Dir, dass Du ein Kind warst.

Nicht, dass ich Dich nicht liebe – ich habe nur zu viel von Dir erwartet und Dich nach dem Maßstab meiner eigenen Jahre beurteilt, als ob Du schon erwachsen wärst.

Dabei ist doch so manches an Dir gut und schön und echt gewesen. Dein kleines Herz war groß wie der erwachende Tag hinter den Hügeln. Das zeigte sich in Deinem plötzlichen Entschluss auf mich zuzustürmen und mir einen Gutenachtkuss zu geben.

Das ist das Wichtigste, mein Sohn, alles andere zählt nicht mehr. Ich bin in der Dunkelheit an Dein Bett geschlichen und habe mich beschämt daneben hingekniet. Das ist ein schwaches Bekenntnis; aber ich weiß, Du würdest nicht verstehen, was ich meine, wenn ich Dir alles das bei Tageslicht erzählen würde.

Doch von morgen an werde ich ein richtiger Papa zu Dir sein. Wir werden dicke Freunde werden, und ich werde mit Dir traurig sein, wenn Du traurig bist und mit Dir lachen, wenn Du lachst. Eher werde ich mir die Zunge abbeißen, als ein vorwurfsvolles Wort aus meinem Mund zu lassen. Und unablässig werde ich mir sagen : „Er ist noch ein Junge, nichts als ein kleiner Junge!“

Ich fürchte, ich habe Dich als Mann gesehen. Doch wenn ich dich jetzt anschaue, wie Du müde und zusammengekauert in Deinem Bettchen liegst, dann sehe ich, dass Du noch ein kleines Kind bist. Erst gestern trug Dich Deine Mutter auf dem Arm, und Dein Köpfchen lag an Ihrer Schulter.

Ich habe zu viel von Dir verlangt, viel zu viel.

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