Es ist nun fast zehn Jahre her, als ich vom frühen und unerwarteten Tod meines geschätzten Professors Dr. Axel G. Schmidt erfuhr. Ich war wirklich erschüttert und es hat mich einige Zeit beschäftigt. Zu diesem Zeitpunkt erwog ich eine Promotion bei ihm und niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass er bald „nicht mehr da“ sein könne.
So geht es uns wohl immer, wenn wir einen geschätzten Menschen (oder etwas breiter gedacht: ein geschätztes Lebewesen) verlieren. Obwohl es eine unumstößliche Gewissheit ist, dass alles Leben endet, blenden wir dies bewusst und unbewusst sehr „erfolgreich“ aus. Das müssen wir wohl auch, denn stets an den Tod zu denken würde uns womöglich davon abhalten, „richtig“ und frei zu leben, visionär zu sein und „groß“ zu denken.
Persönlich denke ich in letzter Zeit häufiger an den Tod (keine Sorge – ich schätze das Leben sehr und genieße und nutze es, so viel ich kann). Das mag daran liegen, dass ich rein statistisch betrachtet gerade am Wendepunkt stehe, was meine erwartete Lebenszeit betrifft. Es ist in gewisser Weise „Halbzeit“ – die erste Lebenshälfte wird reflektiert und Ziele und Prioritäten für die „zweite Halbzeit“ bestimmt: Was will ich noch erreichen? Wofür und mit wem möchte ich meine Zeit verbringen? Was ist wirklich wichtig?
„Memto mori – bedenke dass du sterblich bist.“ Diese Worte sollen dem siegreichen, römischen Feldherren in seinem Triumphwagen von einem Sklaven oder Priester ins Ohr geflüstert worden sein. Sie sollten ihn vor dem Hochmut bewahren, sich selbst für göttlich zu halten. In mittelalterlichen Klöstern kam der Ausdruck dann zu neuer Popularität in Folge des „dunklen Jahrhunderts“ und später dem epidemischen Auftreten der Pest.
Mein Eindruck ist, dass die Corona-Epidemie gerade ebenfalls einen Bewusstseinswandel forciert. Vieles wird mehr denn je hinterfragt, die Idee der „Nachhaltigkeit“ gewinnt immer mehr an Bedeutung. Im selben „Augenblick“, da die Menschheit unfassbare Fortschritte in der Technologie erzielt, wir uns zu einer Art „Homo Deus“ entwickeln, wird uns mehr und mehr bewusst, wie fragil unsere Zivilisation, unser Leben ist.
Der Klimawandel und die globale Epidemie zwingen uns dazu, uns mit großen gesellschaftlichen – wenn nicht gar existenziellen – Fragen auseinanderzusetzen. Gleichzeitig erzeugt die hohe Geschwindigkeit technologischer Entwicklungen strukturelle Veränderungen, mit der die Gesellschaft wie auch das einzelne Individuum kaum mitzuhalten vermag. Dies bildet den Nährboden für den zunehmenden Populismus, die Suche nach dem „starken Macher“ mit schnellen einfachen Antworten, „boomende“ Verschwörungstheorien und „gefühlt“ zunehmende psychische Erkrankungen.
Persönlich glaube ich, dass die kommenden zehn bis zwanzig Jahre weiterhin immens viele gravierende Veränderungen bringen werden – „positive“ wie „negative“. Wie man persönlich damit umgeht ist meines Erachtens eine Schlüsselentscheidung für die eigene Lebensqualität. Offenheit und Selbstwahrnehmung, -reflektion und -steuerung sind daher Kompetenzen, die ich als sehr bedeutsam erachte und die viel stärker pädagogisch in den Vordergrund gestellt werden müssen.
In diesem Kontext erachte ich „Memento mori“, sich der eigenen Sterblichkeit zu erinnern und das zur Priorisierung zu nutzen, als eine wichtige „Übung“. Das hat Steve Jobs sehr schön zum Ausdruck gebracht und daher verweise ich dazu auf meinen Beitrag „Nutze den Moment!“, wo ich das bereits erläutert und mit einigen praktischen Vorschlägen angereichert habe.
Zuletzt: Bedenke dass alles sterblich ist. Also auch deine dir nahe stehenden Menschen. Denke daran, wenn du dich über jemanden geärgert hast oder von jemanden verletzt wurdest, der dir wichtig ist. Irgendwann ist die Person nicht mehr da. Vielleicht schon morgen. Es ist daher immer besser, die eigene Eitelkeit, den eigenen Stolz, eigene Ängste zu überwinden und keine „Päckchen“ unnötig lange mit sich herum zu tragen. Es gibt nichts zu verlieren. Außer dem Leben. Und dann ist es zu spät.
Wichtiger Nachtrag:
„Memento mori“ wurde zwar durch die Cluniazensische Reform, einer geistlichen Reformbewegung der katholischen Kirche, populär. Mein Beitrag soll jedoch keineswegs so verstanden werden, dass man sein Leben dafür nutzen soll, sich für ein „Jenseits“ zu qualifizieren – ganz im Gegenteil! Ich lehne Religionen und deren häufig postulierte Idee eines Lebens nach dem Tod vollkommen ab. Da gehe ich konform mit Lukrez („De rerum natura“): Man sollte das Leben mit voller Kraft nutzen, es genießen und es verlassen wie ein zufriedener, satter und dankbarer Gast. Wir haben das Leben nur vorübergehend, unsere „Bausteine“ werden nach unserem Tod für anderes gebraucht. In dieser Hinsicht eine Leseempfehlung: „Die Wende – Wie die Renaissance begann“.
„Memento mori? Memento vivere!“
So rief Nietzsche laut heraus. Damit betonte er, dass man Leben, in all seinen Extremen auskosten soll und sich nicht von dem – übrigens christlich geprägten – memento mori „an der Nase rumführen“ lassen solle: JETZT gilt es, Dinge zu reißen, zu LEBEN – also lasst euch nicht von „Jenseits-Hoffnungen“ blenden. Da kommt nix, so Nietzsche. Hannah Arendt betonte auch (obwohl Schülerin Heideggers), dass man vom Anfang her denken solle, nicht vom Ende. Besagter Heidegger war ja für sein Heidegger „Sein-zum-Tode“ berühmt: erst unsere Vergänglichkeit forciert uns, unser Leben zu nutzen. In meiner Sprache: den Elfmeter müssen wir alleine schießen, egal wer unsere Mitspieler sind, egal was das Publikum gerade singt.
Wer über den Tod nachdenkt, trifft jedenfalls – je nach Intensität der Herangehensweise – in der Regel auf folgende Fragen: Was ist „der“ Tod? Ist „der“ Tod ein Gut oder ein Übel? Macht es Sinn, den eigenen Tod zu fürchten? Wie soll ich mich vernünftigerweise zu meinem eigenen bevorstehenden Tod verhalten?
Schon bei der ersten Frage landet man bei der Essenzielleren: und was ist das Sterben? Nur fürs Protokoll: die heute gängige Hirntod-Definition wurde in den 1960er Jahren aus ökonomischen Erwägungen eingeführt (!). Wie auch immer:
Bei Michel den Montaigne habe ich mal gelesen: „Das Vorbedenken des Todes ist ein Vorbedenken der Freiheit.“ Und weiter führt er aus: „Wer sterben gelernt hat, hat das Dienen [im negativen Sinne gemeint – MiF] verlernt.“ Das ist eine tiefe Einsicht: im Antlitz des Todes gibt es keine großen Sorgen, Hoffnungen, Projekte mehr. Zumindest sollte es so sein – im Falle eines „gelungenen Lebens“. In Montaignes Essais – die an vielen Stellen den Tod uns das Sterben thematisieren und damit ungewollt seine Allgegenwärtigkeit zum Ausdruck bringen – bestätigen meines Erachtens eine Beobachtung, die man oft machen kann: dass der Todesgedanke an Gewicht zunimmt, je größer der Individualitätssinn eines Menschen ist. In anderen Kulturen sieht man das „gelassener“: Der Tod ist weniger „Problem“, als schlicht eine unsere ´conditio humana` bedingende Tatsache, weil wir durch sie an der universellen Vergehensbewegung aller Dinge teilhaben: Mit jedem Lebendigen wird auch der Tod mitgeboren! Was war Sokrates´ Antwort darauf, dass die 30 Tyrannen ihn zum Tode verurteilt hätten? „Und die Natur sie!“ Sokrates hätte die Tage vorher (wohl relativ leicht) fliehen können – doch als Philosoph hat man im Einklang mit seiner Lehre zu leben – und eben zu sterben. Und für ihn war der Tod kein zu fürchtendes Übel – vielleicht mag das ein Fixpunkt für unser Bedenken des Todes sein.
Na dann ist ja alles geklärt – oder doch nicht? Es wird noch heroischer. Schon Epikur sagt: der Tod trifft Lebendigen nicht, weil er lebt , Toten nicht, weil er ja nicht mehr lebt. Das ist, meine ich, genauso eine Frechheit, wie der zweite in der Antike gängige Lehrsatz: Das Nichtsein nach dem Tode gleich dem Nichtsein vor der Geburt. Wird mit diesen starken, kräftigen Sätzen nicht ein intellektuelle Betrug begangen an unserem uns definierenden Ich-Bewusstsein? Uns ist unser ehemaliges Noch-Nicht-Sein doch vermutlich unendlich gleichgültig, unser künftiges Nicht-Mehr-Sein jedoch überhaupt nicht – oder? Was passiert dann mit dem Geist bzw. der Seele? (Sofern es das gibt – das Fass mache ich h i e r nicht auf, sondern gerne bei einem Glas Wein.)
Dein memento mori verwandelt sich jedenfalls – denke ich – in den Vorsatz, jedem Augenblick des Lebens die umfassendste Rechtfertigung zu erteilen. Nur wie geht das? Zum Beispiel, aber bei Weitem nicht nur, in tiefer Meditation: die Vorstellung, was ist, wenn man nicht mehr denkt oder empfindet, kann dabei real werden, was, so würde Montaigne sagen, eine Art „eine Art Einübung in den Tod darstellt“ [er bezog das zwar auf das Philosophieren – ich unterscheide das mal nicht].
Zwar schrieb Nietzsche mal im Zarathustra: „Stirb zur rechten Zeit“.
Aber, so meine ich erst, wenn die Zeit gekommen ist.
(Daran schließen sich dann natürlich Fragen nach einem gelungenen Leben [Aristoteles], einem würdevollen Tod, dem Recht, das Ende selbst zu bestimmen und so weiter an – es wäre also eher ein Thema für ein Fläschen, als ein Gläschen Wein.)
Hallo Marco,
es ist mir ein Bedürfnis ein paar Zeilen zu schreiben. Ich bin „zufällig“ auf diese Seite gekommen. Der Name Marco Feiten war bei mir sofort in einem positiven Konnex zum Finanzbereich und ich habe mich gefragt ob dies wohl der selbe Mensch ist ? Ich habe ein paar Beiträge gelesen und möchte Ihnen auf diesem Weg dafür danken, daß sie Ihre inspirierenden Gedanken auf diese Weise mit der Welt teilen.
Liebe Grüsse
[…] wir ein Erlebnis teilen möchten, noch da sind und in welcher Verfassung wir und sie dann sind. Memento mori. Das Glück liegt im Jetzt und es ist an uns, die Prioritäten richtig zu setzen. Der richtige […]